Videoanalyse der Kind-Eltern-Interaktion
Die Eltern-Kind-Interaktion im Wechsel zwischen gelingender und misslingender Abstimmung
Der emotionale Austausch zwischen dem Kind und seinen Eltern ist der Grundstein für die seelische Entwicklung des Kindes. Er wird seit einiger Zeit intensiv erforscht.
Neueren Studien zufolge bildet der emotionale Austausch zwischen dem Baby und seinen elterlichen Bezugspersonen nicht nur die Grundlage für die spätere Gefühlsentwicklung, sondern auch den Grundstock der Intelligenz. Beispielsweise lernen Babys im Zuge des „emotionalen Signalisierens“ kausal, d. h. in logischen Zusammenhängen zu denken. Ein Beispiel: Wenn die Mutter das Baby anlächelt, wenn das Baby zurücklächelt, und wenn die Mutter darauf hin neuerlich mit einem Lächeln reagiert, dann hat sich eine Kausalkette gebildet, ein Zusammenhang zwischen dem, was es selbst tut und wie seine menschliche Umwelt reagiert; und diesen Zusammenhang beginnt das Baby zu begreifen. Die wichtigsten Denkvorgänge beim Baby und beim Kleinkind entstehen im zwischenmenschlichen Bereich. Die sog. „Teilleistungs-Störungen“ wurzeln nach neueren Erkenntnissen in Defiziten im Bereich des wechselseitigen emotionalen Signalisierens. Daher ist es so wichtig, dass der Gefühlsaustausch zwischen dem Baby und seinen Eltern stimmig ist.
Damit das Baby sich in seiner Befindlichkeit verstanden fühlt, ist es wichtig, dass die Bezugspersonen sich immer wieder auf seine momentane Befindlichkeit abstimmen und auf diese „spiegelnd“ reagieren. Die Abstimmung kann im gleichen Modus erfolgen – z. B. indem eine körperliche Bewegung des Babys von einer körperlichen Abstimmungsbewegung der Mutter oder des Vaters beantwortet wird. Oder die Abstimmung erfolgt „cross-modal“, indem z. B. eine körperliche Bewegung des Babys von einem stimmlichen Signal des Elternteils beantwortet wird.
-
Zu den bedeutsamen Elementen, die Aufschlüsse über die Qualität der Eltern-Kind-Interaktion geben, gehören:
-
Die Aufmerksamkeitsregulierung
-
Die Fähigkeit des Elternteils das Kind zu beruhigen zu können
-
Der Wechsel zwischen dem Herstellen von Bindung (z. B. durch Körperkontakt) und dem Zulassen von Autonomie (z. B. dem Kind Raum geben für die Entwicklung eigener Impulse)
-
Der Wechsel von Momenten gelingender Abstimmung mit solchen misslingender Abstimmung (und damit in Zusammenhang die Fähigkeit der Eltern, Kontaktbrüche zu „reparieren“)
-
Momente gemeinsam erlebter positiver Spitzenaffekte (z. B. gemeinsam geteilte Begeisterung)
Ein Videobeispiel
Klicken Sie nun das Videobild an und warten Sie, bis Quick Time geladen hat. Spielen Sie dann das Video ab.
Sie sehen die Interaktion zwischen einem 13 Monate alten Jungen und seiner Mutter. In solchen Interaktionen ist bedeutsam, ob und wie es den beiden Interaktionspartnern gelingt, sich aufeinander abzustimmen, sich in ihren Bewegungen und ihrem emotionalen Verhalten aufeinander abzustimmen, zu „synchronisieren“. Entscheidend ist, inwieweit die Mutter in der Lage ist, die Absicht ihres Kindes richtig zu „lesen“ und das Kind in seinen Bedürfnissen positiv zu unterstützen. Jede normale Eltern-Kind-Interaktion zeichnet sich durch einen ständigen Wechsel von gelingender Abstimmung und Fehlabstimmung aus, und Sie können sehen, wie diese Mutter – eine sehr bemühte Mutter _ auf geduldige Weise versucht, ihr Kind zu beruhigen. Anfangs scheitern die Versuche, schließlich gelingt es ihr doch.
Dieses Kind ist müde und erschöpft. Es zahnt und ist auch etwas verkühlt, es ist in weinerlicher Stimmung. Immer wieder versucht die Mutter, ihren Sohn zu beruhigen oder abzulenken. Dies erweist sich als gar nicht so einfach.
Aus dieser knapp zweiminütigen Interaktion greife ich nun einige Sequenzen auf und beschreibe sie. Es geht dabei in erster Linie um die Fähigkeiten der Mutter, ihr Kind beruhigen zu können. Es wechseln sowohl Moment der Bindung mit solchen der Autonomie als auch gelingende mit misslingenden Abstimmungen.
Momente gemeinsam erlebter positiver Spitzenaffekte sind in den hier gezeigten Sequenzen nicht zu sehen, vermutlich weil das Kind nicht in ausreichend guter Verfassung ist.
Erste Sequenz – das Kind interessiert sich für die Kamera
Zeit: 00.00.03 –00. 00.11
Am Gesichtsausdruck des Kindes kann man seine Stimmung gut ablesen. Es ist in denkbar schlechter Verfassung. Nun entdeckt es die Kamera und beginnt sich für sie zu interessieren. Die Videosituation ist neu und weckt daher das Interesse des Kindes. Wenn man genau schaut, was nun passiert, dann sieht man: Mutter und Sohn haben in dieser Interaktion einen gegensätzlichen Rhythmus, was die Zuwendung zur Kamera betrifft. Wenn das Kind zur Kamera hinblickt, schaut seine Mutter zum Kind, und wenn das Kind sich ihr zuwendet, dann schaut sie zur Kamera. Der Vorgang wiederholt sich noch einmal. D. h. es handelt sich bei dieser Sequenz um eine Nicht-Synchronisierung auf der Ebene der Bewegungen des Kopfes, und auch stimmlich bleibt die Mutter in dieser Sequenz stumm. Sie hätte beispielsweise das Interesse ihres Kindes an der Kamera durch ein interessiert klingendes „Ah – schau mal, was passiert denn hier!?“ verstärken können, was die Stimmung des Kindes möglicherweise positiv beeinflusst hätte. Dies geschieht hier nicht.
Diese erste Sequenz führt daher nicht zu einer Verbesserung des kindlichen Befindens. Die gemeinsame Regulierung der Aufmerksamkeit des Kindes ist hier misslungen.
Das Kind wendet sich in der Folge seiner Mutter zu (eine „Bindungsbewegung“), und sie drückt ihm einen Kuss auf den Kopf (ebenso eine „Bindungsbewegung“), der jedoch auf nicht dazu beiträgt, dass das Kind sich beruhigt. Eine Abstimmung ist hier nicht gelungen.
Zweite Sequenz – das Kind findet ein interessantes Spielobjekt
Zeit: 00:00:15 – 00:00:20
Nachdem die Mutter die Position ihrer Arme verändert hat, wendet sich der Junge einem Spielzeug zu, das seine Aufmerksamkeit zu fesseln scheint (dies ist eine „Autonomiebewegung“). Man sieht es an seiner Körperhaltung: eine volle Ausrichtung auf das Spielzeug. Die Mutter akzeptiert zunächst Gabriels Wegbewegung. Aber dann: Die Mutter verstellt mit ihrem Gesicht den Blick ihres Sohnes auf das Spielzeug. Auch in dieser Sequenz muss man von einer Fehlabstimmung sprechen, von einer nicht passenden Bindungsbewegung der Mutter. Anstatt die Autonomiebewegung des Kindes wirkungsvoll zu unterstützen, bringt sie sich mit ihrem Gesicht ein und erzwingt dadurch, dass ihr Kind sie ansieht und nicht das Spielzeug, das zuvor das Interesse geweckt hatte.
Die Folge ist, dass auch in dieser zweiten Sequenz eine Beruhigung des Kindes nicht möglich ist. Es bleibt raunzig und unzufrieden.
Dritte Sequenz – das Kind beschäftigt sich mit einem Gegenstand
Zeit: 00:00.20 – 00:00:30
Nun ist der Junge dem Spielgegenstand beschäftigt. Von der Grundstimmung her ist er aber weiterhin unruhig und raunzig, d. h. unzufrieden. Die Mutter hat seine Autonomiebewegung nun doch akzeptiert, was gut war. Sie ist in dieser Sequenz gut abgestimmt auf ihr Kind und teilt die Aufmerksamkeit mit ihm, die beiden haben einen "joint focus", einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus. D. h. in dieser Sequenz kann man von einer gelingenden Aufmerksamkeitsregulierung sprechen. Im akustischen Bereich bleibt die Mutter in dieser Sequenz jedoch zurück. Wenn sie z. B. mit aufmunternder Stimme sagen würde „Schau, was für ein schönes Auto!", dann würde sie die Gefühlslage ihres Kindes u. U. in eine bessere Richtung zu verschieben. Sie verhält in dieser Sequenz aber eher still.
Und man hat vom Video her den Eindruck, dass ihre Sitzhaltung unbequem ist, d. h. ihr Körper ist in Spannung, und diese Spannung überträgt sich wahrscheinlich unmittelbar auf ihren Sohn. Kleine Kinder haben ein ausgeprägtes Körperspürbewusstsein, d. h. vermutlich nimmt das Kind unbewusst die körperliche Spannung seiner Mutter wahr, sodass eine effektive anhaltende Beruhigung nicht gelingt.
Dann streichelt sie ihn am Rücken und gibt ihm einen Kuss, ohne dass in dieser Situation ihr Kind einen Kontaktwunsch gezeigt hätte. Die an sich zärtliche mütterliche Geste scheint in diesem Kontext wenig förderlich zu sein, auch in dieser Sequenz muss man – ausgehend von der erzielten Wirkung – von einer Fehlabstimmung sprechen.
Vierte Sequenz – die Mutter schaut das Kind erwartungsvoll an
Zeit: 00:00:32 – 00:00:38
Das merkt die Mutter auch – es gelingt ihr nicht recht, ihren Sohn wirkungsvoll und anhaltend zu beruhigen. Sie schaut ihn nun an, als erwarte sie eine Klärung von ihm. Die kann er natürlich nicht liefern. Die Folge ist, dass das Kind weiterhin quengelnd bleibt.
Fünfte Sequenz: Die Mutter bietet dem Kind ein neues Spiel an
Zeit: 00:00:39 – 00:00:56
Die Mutter hat nun eine andere Idee: sie bietet ein Spiel an. Die Mutter übernimmt in dieser Situation klar die Führung, und das scheint hilfreich zu sein. Jedoch ist die körperliche Position des Kindes zum Spiel nicht optimal, es befindet sich in Rückenlage, und das ist keine gute Ausgangsposition für die Beschäftigung mit den Bauklötzchen. Die Mutter reicht dem Kind einen Baustein, begleitet von einem verbalen „Da!“, das von der Intonation her einen ansteigenden Erregungsfluss aufweist (also nicht beruhigend, sondern stimulierend ist). Das Kind lehnt sich nun zurück und wirft frustriert den Stein weg. Es wendet sich von der Spielsituation ab und bäumt sich zornig auf. Die Mutter nimmt es hoch und kommentiert die Situation mit einem „Oje", dabei geht sie körperlich auf Distanz. Für Gabriel wirkt all dies anscheinend irritierend, und er ist weiterhin frustriert und schlecht gelaunt.
Sechste Sequenz: die Mutter verändert ihre Sitzhaltung und die des Kindes – der Stimmungszustand des Kindes beginnt sich stabil zu verbessern
Zeit: 00:00:57- 00:01:41
Diese Mutter gibt jedoch nicht auf!
Nun handelt sie intuitiv richtig. Und die Veränderung erfolgt auf körperlicher Ebene: verändert ihre eigene Körperhaltung und die ihres Kindes. Sie hilft dem Kind in eine körperlich bessere Position zu finden, und auch sie selbst hat mittlerweile ihre Körperhaltung verändert und kann daher ihrem Kind eine entspanntere körperliche Stütze sein. Das Kind findet „Rück-Halt“, und sie selbst scheint sich körperlich zu entspannen – was das Kind vermutlich intuitiv wahrnimmt. Und die Mutter hat damit Erfolg. Das Kind konzentriert sich nun auf das Spielzeug, und es beruhigt sich zunehmend. Die Rückenunterstützung und seine insgesamt viel bessere körperliche Positionierung zum Spiel wirken wie ein Fundament, wodurch das Kind in seinen Absichten erfolgreicher sein kann als zuvor. Die Abstimmung gelingt nun ausgezeichnet, und die Mutter unterstützt den Prozess nun akustisch mit einem lebendigen, positiv klingenden „Super!“ Dabei ist auch das „Timing“ dieser akustischen Bestätigung passend, es folgt kurz auf den Erfolg des Kindes.
Die Folge ist, dass das Kind sich anhaltend beruhigt und in einen positiven Stimmungszustand wechselt. Die gemeinsame Regulierung der Aufmerksamkeit gelingt nun optimal. Obwohl das Kind zwischenzeitlich hustet, gelingt es ihm, aufmerksam bei der Sache zu bleiben.
Analyse und Prognose
In dieser Interaktion wechseln stimmige mit weniger stimmigen Szenen, wie dies in jeder Mutter-Kind-Interaktion der Fall ist. Die Mutter ist engagiert, geduldig und schafft es schließlich trotz wiederholter Fehlversuche, ihren Sohn wirkungsvoll zu beruhigen.
Man kann aus den hier gezeigten Videosequenzen schlussfolgern, dass diese Mutter besser umgehen kann mit Bereichen, die erst später im Leben des Kindes auftauchen – also im konkreten Spiel, wahrscheinlich auch in der Sprache. Die Mutter scheint weniger sicher zu sein in Bereichen, die den unmittelbaren Körperkontakt betreffen (darauf deuten die anfänglichen wiederholten Fehlabstimmungen) und auch der Gebrauch der Stimme betreffen, die insgesamt eher wenige Modulationen aufzuweisen scheint. Im Gegensatz zum sprachlich-intellektuellen Bereich, in dem sie ihrem Sohn vermutlich positive Stimulationen geben kann, scheint bei ihr die frühe, körperlich-stimmliche Interaktion und Regulation, das „basale Urgestein der Erfahrung“, weniger gut ausgebildet zu sein.
Das von der Mutter angebotene Spiel erfordert kindliche Denkprozesse, die im Zustand des Kindes nicht selbstverständlich sind. Aber das Kind ist kooperativ und macht mit. Es weiß wahrscheinlich bereits, dass es durch seine Mutter auf der Ebene des Intellekts gut stimulierbar ist, und findet daran vermutlich auch Vergnügen.
Prognostisch bedeutet dies, dass ihr Sohn und sie künftig bessere Möglichkeiten in der verbal geteilten Aufmerksamkeit lustvolle und positive Erfahrungen zu teilen als in der Erfahrungswelt der unmittelbaren Körperkontakte.
Das heißt auch, dass die gegenseitige Abstimmung zwischen Mutter und Kind besser wird, je älter das Kind wird, weil es dann immer mehr in die Welt hineinwächst, in der seine Mutter ihre stärksten Fähigkeiten hat.
Jedoch ist der Einfluss des Vaters unbekannt, und dieser kann ein wichtiges Korrektiv sein.
Das Kind wird voraussichtlich im intellektuell-verbalen Bereich gute Fähigkeiten entwickeln, es wird jedoch im Bereich des körperlichen Spürbewusstseins weiterhin Entwicklungsbedarf haben. Wie so viele Menschen in unserer Zeit könnte auch dieses Kind dazu tendieren, Stress eher körperlich zu verarbeiten und körperliche Stresssignale übergehen, weil das körperliche „basale Urgestein der Erfahrung“ hier weniger gut ausgebildet zu sein scheint. Sollte sich diese Prognose bewahrheiten (was aufgrund des Mangels an zusätzlichen Informationen unsicher bleiben muss), wäre dieses Kind später als Erwachsener ein klassischer Kandidat für eine körperorientierte Selbsterfahrung bzw. Psychotherapie.